Geschichten

Meine Biografie – Gitti Grüter

Ich bin 1986 geboren und auf einem Bauernhof in der Schweiz aufgewachsen. Ich war ein fröhliches Kind, auch wenn niemand mit mir spielen wollte.

Regelmässige Wutausbrüche, unhaltbare Träumerei und die Tatsache, dass ich A. kein einziges Wort richtig schreiben konnte und B. alles rückwärts schrieb, haben meine Lehrer*innen und Eltern dazu veranlasst, mich beim Kinderpsychologen untersuchen zu lassen. Er kam zum Schluss, dass ein POS (Psychoorganisches Syndrom, in den 90er Jahren der Begriff für kindliches ADHS) nicht ausgeschlossen sei und dass eine Legasthenie vorliegt. Medikamente wollte er noch keine verschreiben.

Meine Lehrerin war Kinesiologin und sie kam jede Woche einmal zu mir nach Hause und machte Übungen mit mir (!). Fast alle Kids haben sie gehasst. Ich mochte sie natürlich sehr.

Bereits im Kindergarten habe ich das Theater entdeckt. Und meine Lehrer*innen in der Primarschule haben dafür gesorgt, dass ich mindestens einmal im Jahr bei einem Theaterstück auftreten kann. Habe ich schon erwähnt, welch ein Glück ich hatte, solch tolle Lehrpersonen gehabt zu haben? Auch wenn ich überhaupt nicht singen konnte, so durfte ich die Hauptrolle in einem Musical spielen. Das Singen übernahmen dann andere. Die 7. bis 9. Klasse war dann nicht mehr so lustig. Ich wurde richtig gemobbt und so verbrachte ich meine Pausen auf der Toilette oder weit weg vom Schulgebäude im Wald. Ich wurde stark gläubig (auch wenn ich nicht einmal in der Bibelgruppe echte Freunde fand) und durfte in ein katholisches Mädchen-Gymnasium wechseln.
Das war eine einsame Zeit. Ich kann mich kaum an die 4 Jahre erinnern, wo ich da war. Ich glaube, ich habe nur für die Schule gelernt und geträumt. Im Kunstunterricht ging das so: Die Lehrerin sollte uns jeweils zu Beginn der Lektion eine Einführung zu einem Thema machen. Die Materialen standen schon bereit. Für mich waren die 5 Minuten, die sie jeweils geredet hatte, bevor wir beginnen durften, unaushaltbar. Ich habe mir noch während der Einführung die Materialien geschnappt und losgelegt, noch bevor der Auftrag erteilt war. Irgendwie hatte ich auch da wieder enorm viel Glück: Sie hatte es zugelassen, dass ich mich respektlos benahm und mich nicht gehasst dafür. Nach dem Unterricht sass ich bis in die Nacht hinein im Kunstkurs und zeichnete und bastelte. Aber an die Kunsthochschule wollte ich nicht. Ich wusste, dass es diese krassen Künstler*innen gab, aber ich wurde den Gedanken nicht los, dass man an der Kunsthochschule entweder hübsche Sachen malt und dekoriert (das wollte ich auf keinen Fall, ich wollte mich lieber der Weltherrschaft widmen) oder man wird zu einem ganz unfreundlichen, ernsten Menschen. (Die Künstler*innen, die ich damals kannte, waren alle verrückt und unfreundlich. So wollte ich nicht werden.)

Aber was wollte ich denn werden? Psychiaterin! Grabsteinbildhauerin! Physikerin! Biologin! Schauspielerin! Schafhirtin!
Das Pädagogikstudium, das ich dann gewählt habe, musste ich bald wieder abbrechen: Die Jugendlichen, die ich unterrichten sollte, fanden mich super uncool. Ich war zu kompliziert, habe viel zu viel geredet. Mein Mentor, der Klassenlehrer, schickte mich nach Hause und meinte, ich soll mir ein anderes Studium aussuchen. Er hatte sowas von Recht. Ich wählte Philosophie und nachdem ich einen Wahnsinnsfilm irgendwann nachts auf Arte sah, habe ich mich entschieden, parallel auch Filmwissenschaft und später Regie zu studieren. Es ist mir ein Rätsel, wie man mich heute als Regisseurin ernst nehmen kann. Wie habe ich das geschafft? Ich meine, die ersten Jahre habe ich mich nicht einmal getraut, diesen Wunsch Regisseurin zu werden, zu äussern. Ich dachte jede*r würde dann denken: „Was die? Hahaha. Sicher nicht.“ Ich denke, eine Aussage eines Regisseurs in einem Interview hat mich besonders geprägt: “Wenn du Filme machen willst, dann mach halt einfach!” Ich hatte eh schon jede Würde verloren, dann kam es jetzt auch nicht mehr darauf an, wenn mich ein paar Leute mehr belächeln.


Das Studium der Philosophie war genau richtig für mich. Trotzdem kam ich zum 3. Mal in einem Leben in eine depressive Episode mit Panikattacken und Nervenzusammenbrüche, die einfach nicht enden wollten. Also schickte mich der Hausarzt zum Psychiater. Dieser hat nach einem sehr kurzen Gespräch einen Fragebogen vorgelegt. Hinten raus kam ADHS. Ich wusste was das ist, dachte aber, ich hab sicher kein ADHS und wenn, dann nur so eine sehr schwache Ausrichtung davon bzw. eher so eine Art leichten ADHS-Charakterzug. Aber hey, bisschen Ritalin ausprobieren, warum nicht? Das Ritalin gab mir dann aber doch ziemlich viel Einsicht: Ich hatte schlagartig das Gefühl: Achsooooooooo. Das ist also der Zustand, wenn man geordnet denken kann! Wenn man sich ganz ok fühlt, keinen Stein im Bauch hat! Der Psychiater meinte: ich sollte das als Krücke sehen. Ich könne das eine Zeit lang nehmen und unter Ritalin einige Verhaltens- und Denkstrukturen aneignen. Das ging ziemlich gut. Ich habe 2 Jahre lang Concerta (Methylphenidat Retard) genommen, durfte mich von der kostenlosen Hochschulpsychologin therapieren lassen und bin in Selbsthilfegruppen gegangen. Ich muss gar nicht erzählen, welche Prozesse alles in mir freigesetzt wurden, seit ich die Diagnose habe.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich wahnsinnig dankbar bin dafür. Auch hatte ich das Glück, zum Film gefunden zu haben, und eine Chance zu erhalten, mich filmisch auszudrücken. 2016 habe ich meinen Bachelor in Regie mit einem Dokumentarfilm über zwei Jungs mit ADHS abgeschlossen. Danach habe ich mich für Gelder beworben bis zum Umfallen, um noch zwei fiktionale Filme umzusetzen und schliesslich bin ich nach Berlin gezogen, um hier den Master in Filmregie zu machen.

Jetzt bin ich 34. Zwischendurch waren Medikamente meine Rettung. Aktuell lebe ich ohne Medi. Aber wer weiss, wann der nächste Rückschlag kommt. Ich bin alleine und war immer alleine. Ich habe bis jetzt nie einen festen Freund gehabt. Das fühlt sich oft komisch an. In der Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, dass manche Dinge einfach sehr spät kommen. Vor einem Jahr habe ich mir das Wort EASY auf den Arm tätowiert. Das hilft auch. Und aktuell bin ich im Gender Thema unterwegs: Ich entdecke die Feministin in mir und auch das tut mir sehr gut.
Als Filmemacherin habe ich das Glück, alles was mir widerfährt, verwursten zu können. Je mehr Scheisse ich erlebe, desto besser für meine filmischen Werke. Ich schreite langsam voran. Meine genialen Regiekolleg*innen sind mindestens 5 Jahre jünger als ich und haben schon Langfilme gemacht. Bei mir läuft alles etwas länger. Ich werde wahrscheinlich sogar das Kinderkriegen verpassen (obwohl ich, glaube ich, gerne Kinder hätte).
Joah. So ungefähr würde ich mein bisheriges Leben in Bezug auf ADHS zusammenfassen.

LebensberichtAnonym

Ich wurde 1968 als 3.Tochter geboren. Meine Mutter wusste also wie es sein sollte. Meine Schwestern haben zwar gewisse Züge, aber nur ich habe die ganze Breitseite abbekommen.

Das fing schon damit an, dass ich nicht normal auf die Welt kam: Ich hatte mich quergelegt und wollte mich nicht in Position drehen.

Nach dem Kaiserschnitt ging es meiner Mutter nicht gut, daher war ich schon recht brav als ich nach Hause durfte. Lange hat es nicht angehalten.

Meinen Dickkopf bewies ich schon früh, sollte ich doch ein Junge werden und jetzt auf einmal wollte man mich in Kleidchen stecken. Da habe ich heftigst und lautstark kundgetan, dass das nicht funktioniert.

Ich war eigentlich ein „wilder Junge“.

Meine Mutter sagte immer, sie wünscht mir später mal auch so ein Kind, damit ich merke wie das ist. Ich bedaure sehr, dass sie nicht mehr erlebt hat, wie ihr Wunsch in Erfüllung ging. Vielleicht hatte sie ja auch ihre Finger im Spiel und sitzt grinsend auf ihrer Wolke und genießt das Schauspiel.

Ich habe nicht nur ADHS, sondern bin auch oppositionell veranlagt. In unserer Familie gab und gibt es interessante Charaktere, von denen ich jetzt weiß, dass sie auch ins Spektrum gehören bzw. gehörten.

Die Familie meiner Mutter hatte ein Geschäft, die meines Vaters auch.

Dazu eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Ich kannte es nicht, dass Väter morgens verschwinden und erst abends wiederkommen.  Kaum ein Kind ging in den Kindergarten, weil es zuhause viel zu interessant war. Mehrere Generationen nahe zusammen – es gab immer jemanden, der Zeit hatte.

Wir haben Abenteuer erlebt. Unser Vater hat uns ständig mitgenommen: zu Kunden, zu Lieferanten, auf den Acker, zu den Tieren. Wir waren bei Geburten, beim Schlüpfen dabei, haben Tiere großgezogen, waren beim Schlachten und verwursten dabei.

Bei der Familie meiner Mutter haben wir mit den Getränkekisten gespielt, haben geholfen Flaschen abzufüllen, waren beim Ausliefern dabei.

Und überall Tiere.

Unfälle, Abenteuer, Löcher in den Köpfen, eingeklemmte Finger, Mutproben, Kämpfe, blutende Wunden, Schrammen. Mit den Kindern in der Straße gespielt. Völkerball, der Kaiser schickt seine Soldaten aus, wer hat Angst vorm schwarzen Mann.

Die Familien überall bekannt, in vielen Vereinen aktiv.

Von den Eifersüchteleien, Feindseligkeiten, Unstimmigkeiten, die es in solch engen Beziehungen gibt wusste ich lange nichts, habe das einfach nicht kapiert. War da völlig naiv.

In der 1. Klasse hatte ich eine einmalige Lehrerin, die Klassenräume damals waren stinklangweilig, das einzig Interessante war die Lehrerin, und die habe ich geliebt. Sie erkannte auch, dass dieser „wilde Junge“ ziemlich was im Kopf hat, und verstand das zu nutzen.

Damals gab es keine Texte in den Zeugnissen, aber bei mir stand unter Bemerkungen:

„M. ist eine aufmerksame Schülerin, die freudig und fleißig mitarbeitet.“

Leider ist sie dann gegangen, hat aber die nächste Lehrerin schon auf mich vorbereitet.

Das hat sich durch mein ganzes Leben gezogen: Immer gab es da einen Menschen, der zu meinem Mentor wurde, den ich geliebt und für den ich geleistet habe.

Aber manche Sachen mach ich bis heute nicht, egal welche Konsequenzen es hat. Wie z. B. Zähneputzen oder Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt.

1975 kam dann der große Einschnitt.

Mein Vater ist tödlich verunglückt.

Meine ganzen Verhaltensweisen, die eigentlich dem ADHS und der oppositionellen Störung geschuldet waren, hatten auf einmal eine Erklärung.

Das Leben war aus den Fugen, es hat mich ja nicht alleine betroffen, aber jetzt wurde meine Besonderheit unter diesem Aspekt betrachtet und man hatte Verständnis.

Ich war auch mal handgreiflich, frech, vorlaut, hab meine Schwestern geplagt. War distanzlos. Hab fremdes Eigentum zerstört usw. usf. War ungeschickt, Verletzungs- und Unfallgefährdet. Konnte keine Geheimnisse für mich behalten, musste überall dabei, vorne dran sein. Habe spät lesen gelernt, aber dann gab es kein Buch, das vor mir sicher war.

Ich kam dann auf die Realschule. Die Lehrerin wollte, dass ich aufs Gymnasium gehe, aber meine Mutter hat – mit Blick auf mein kreatives Chaos – die Entscheidung getroffen, mich auf die Realschule zu schicken. Eigentlich hieß es von der Familie väterlicherseits: „Warum auf die höhere Schule, die Mädchen heiraten ja sowieso mal, sollen lieber gleich einen Beruf lernen.“ Meine Schwestern haben sich dafür eingesetzt, dass ich nicht in die Hauptschule gehe wie sie.

Sie waren der Meinung, dass ich dort vor Langeweile Amok laufen und nur noch Blödsinn anstellen würde.

In der Realschule fanden sich sehr schnell wieder Mentoren, die ich geliebt und für die ich geleistet hab.

Dann auch Lehrer, die ich quasi geduldet habe, weil sie ein Lieblingsfach unterrichteten.

Ein Lehrer meinte mal in Chemie: „Wenn ich dich nicht aus Mathe kennen würde, ich würde denken, dass Du dumm bist.“

Er hat dann den Fehler nicht bei mir gesucht, sondern bei sich und hat seinen Unterricht umgestellt.

Wir hatten dann einen sehr interessanten Chemieunterricht mit vielen Versuchen und Vorführungen.

Ich war auch in der Realschule sehr wild, immer im größten Trubel und Geschrei. Aber auch hier hat man das eher dem Trauma zugeschrieben.

Ich habe Hausaufgaben entweder gleich im Unterricht, der 5er Pause, im Bus gemacht, kurz vor der Stunde, beim Aufrufen durch den Lehrer aus der hohlen Hand.

Ich konnte in 20 Minuten Busfahrt einen 2-seitigen Aufsatz schreiben.

Ständig Sachen vergessen, verlegt, kaputt gemacht. Vorlaut, frech, hab endlos diskutiert, war beliebt, lebendig, fröhlich.

Meine Schwestern haben mir von Schuhen bis Schulranzen alles nachgetragen, selbst Busfahrer sind mir mit dem Ranzen hinterher.

In der Pubertät war ich nach der Schule fast schon depressiv.

Meine Schwester hat mich mit dem Hund regelrecht aus dem Haus gejagt. Ich bin stundenlang mit ihm bei Wind und Wetter unterwegs gewesen. Das war im Rückblick genau das Richtige, so konnte ich alles verarbeiten was sich tagsüber angesammelt hatte.

Dann hat es mit den Jungs angefangen. Mein Mann hat damals nicht lockergelassen, obwohl ich mit anderen gegangen bin, mich regelrecht gegen ihn gewehrt habe, gemein, böse abweisend zu ihm war. Ich habe ihn teilweise richtig mies behandelt.

Und doch hat es mich immer wieder zu ihm gezogen, weil ich sein konnte wie ich wollte, er hat es ausgehalten. Irgendwie wusste er, dass er der Richtige für mich ist.

Nach der Schule habe ich eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht.

Meinen direkten Ausbilder konnte ich nicht leiden, aber auch hier fand ich Mentoren, die ich geliebt und für die ich geleistet habe.

Dann ist bei meiner Mutter der Krebs zurückgekommen und 1984 verstarb sie.

Das war für meine volljährigen Schwestern noch einen Zacken härter, weil meine Mutter sie geschickt hat alles zu regeln, solange sie noch gelebt hat.

Beim Tod unseres Vaters hat sie schlimme Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht und wollte verhindern, dass es uns genauso geht.

Meine Schwestern haben da einiges erlebt.

Auch hier hatte ich Mentoren, wie z. B. meine älteste Schwester, die sagte: „Halt den Mund, sperr die Ohren auf, mach ein trauriges Gesicht und lerne“.

Mein ADHS, das oppositionelle Verhalten, die Aggressionen und verbalen Ausraster hätten mich bei Kontakt zu Behörden in große Schwierigkeiten bringen können.

Mit dem Kopf durch die Wand oder raus wo kein Loch ist.

Ich habe meine Ausbildung mit 19 gut abgeschlossen und wurde zu meinem Leidwesen in eine Stabsabteilung versetzt.

Aber das war genau das Richtige für mich. Wir mussten tagfertig sein. Nichts aufheben, aufschieben, später erledigen, auf Wiedervorlage.

Viele ältere Kolleginnen, die teilweise auch ins Spektrum gehören, wussten was ich hinter mir hatte und hatten selbst viel Lebenserfahrung.

Doofer Chef, durch den ich fast in das Burnout gerutscht bin.

Stellvertretenden Chef, der die Rolle des väterlichen Freundes übernahm.

Ich bin mit meinem Mann zusammengezogen, zu meinen Schwestern in unser Elternhaus mit lebenslangem Wohnrecht für Opa und Oma.

Das war eine interessante, zum Schluss sehr belastende Konstellation: Eigentlich groß genug für 4 Haushalte, aber zum Schluss zu eng zum Atmen.

Heute rate ich jedem: Nie mit Großeltern oder Eltern im gleichen Haus zu wohnen, wenn möglich einen Ort weiter. Auch mit Schwestern ist das irgendwann zu nah.

Dass meine älteste Schwester sich scheiden ließ war auch hart, denn mein Schwager war gefühlt ewig in der Familie und es war nochmal schwieriger, da er narzisstische Züge hat.

Er hat mit uns und unseren Gefühlen gespielt, jedem ein anderes Gesicht gezeigt und uns auseinandergetrieben. Das war Psychoterror vom feinsten: Suiziddrohungen, erweiterter Suizid angedroht, Sachbeschädigung, Stalking ….

Mein Mann hat das alles ausgehalten und mich langsam aber hartnäckig aus den Fängen befreit.

Noch ein stabiler Faktor in meinem Leben ist meine mittlerweile 91-jährige Patentante. Sie hat immer Zeit für mich, immer Geduld, wollte nie etwas, hat nie gefordert, nie was erwartet. Ich konnte immer zu ihr, mein Herz und meine Seele ausschütten. Sie hat auch nie gesagt was ich tun soll, sondern hatte wohl Vertrauen darauf, dass ich von selbst die richtigen Entscheidungen treffe. Hat nie mit mir gemeckert. Ich war und bin immer willkommen.

Dass wir Schwestern wieder freundlichen Kontakt zueinander haben, ist unserem mittlerweile angenehmen Abstand zuzuschreiben.

Habt ihr schon geteilt oder redet ihr noch miteinander…. geflügeltes Wort

Wir haben geschafft zu teilen und fair zueinander zu sein. Nicht ohne Streit, aber wir haben es geschafft.

Jeder ging seinen eigenen Weg.

Im Geschäft war es für mich immer mehr frustrierend, da ich von völlig falschen Voraussetzungen ausging. Ich dachte doch tatsächlich, alle haben das gleiche Ziel, alle ziehen am gleichen Strang.  Mit diesen Grabenkämpfen konnte ich absolut nichts anfangen. Die Freude, in größeren Gremien mitarbeiten zu dürfen, war gleich wieder vorbei, weil ich nicht kapiert habe, warum nicht alle an Lösungen interessiert sind, sondern nur damit beschäftigt sind, sich herauszustreichen und alle anderen schlecht zu machen. Sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine zu werfen und so Probleme einfach nicht zu lösen. Stundenlanges Palaver ohne Ergebnis.

Leider konnte ich immer schlecht verbergen, dass mich das nervt, ich das doof und unnötig finde.

Im Jahr 1999 habe ich mit meinem Mann ein eigenes Haus gekauft, damit wir etwas komplett Eigenes haben – kleine Anzeige, ein Zweizeiler in der Zeitung, absoluter Glücksgriff.

Die eine Baustelle – das Elternhaus – fast fertig, selbst entkernt und renoviert und Schwups in die neue Baustelle: Ein Haus aus den 30ern, etwas vernachlässigt, mit riesen Garten.

Von Oktober 1999 bis März 2000 im Wohnwagen gewohnt. Ein beheiztes Zimmer im Haus, war Küche, Esszimmer, Dusche und Wohnzimmer zugleich.

Im März – schwanger mit dem ersten Kind.

Die ersten 3 Monate war mir schlecht, die anderen war ich müde.

Meine Ärztin wollte, dass ich im Krankenhaus entbinde und hat immer versucht etwas zu finden, das eine Entbindung im Geburtshaus verhindert.

Geburt im Geburtshaus, glücklich und zufrieden.

Kind gut gediehen, mit der Unterstützung der Hebamme alle Unken abgewehrt: „Du musst das, du musst dies“.

Was ich bedaure ist, dass ich nicht wusste, dass man beim Stillen ganz beim Kind sein kann: Augenkontakt, summen, streicheln …. ich habe gelesen, ferngesehen, gedöst….

Er war ein fröhliches, aktives Kind. Ich musste immer dabei, hinterher sein. In dem Moment, als er auf den Beinen stand, hat er angefangen zu rennen –  und ich hinterher.

Irgendwelche Kinder- und Babysicherungen haben nicht funktioniert. Es wurde solange versucht bis es geknackt war.

Wir waren immer noch am Renovieren.  Wir haben einen Stopp eingelegt, weil mein Mann keinen Schraubenzieher in die Hand nehmen konnte ohne das Kind. Er hat nicht angefangen zu sprechen, aber konnte alle möglichen Geräte nachahmen: Bohrer, Säge, Schleifmaschine.

2002 ist sein jüngerer Bruder geboren. Ich war fit, denn Nummer 1 hat mir genug Bewegung verschafft.

Für Kind 2 hatte ich dann mehr Erfahrung, aber nicht die Ruhe. Man kann auch im Laufen stillen oder beim Legospielen vorlesen oder was sonst noch eingefallen ist.

Wir waren immer in Bewegung, immer unterwegs. Hatten eine Zeitlang Hühner, in unserem anderen Grundstück Ziegen, zuhause dann Meerschweinchen und Hasen.

Pool, riesen Sandkasten, Rutsche, Schaukel, Sandkastenhaus … immer Besuch, immer Aktion.

Im Kindergarten fröhliche Anarchie.  Aber ADHS und Opposition hatten immer schlimmere Auswirkungen. Während ich mich mit Kind 1 beharkt habe – wir kämpften bis aufs Blut – ist Kind 2 ganz problemlos nebenbei groß geworden.

Ich wollte eigentlich nach der Elternzeit zurück, aber die angebotenen Arbeitszeiten waren nicht mit Betreuungszeiten kompatibel. Ich habe an Beispielen gesehen wie sich das auswirkt. Die Frauen sind ständig mit schlechtem Gewissen unterwegs gewesen, gegenüber den Kindern, dem Mann, der Familie und dem Arbeitgeber.

Aber „nur zuhause“ wurde ich unruhig und unzufrieden. Ich habe dann mit ehrenamtlichen Tätigkeiten angefangen.

Andere, ähnliche Arbeit, war mit 2 kleinen Kindern nicht zu finden. Also bin ich bei einem Postdienstleister nachts arbeiten gegangen. Hat soweit Spaß gemacht bis wieder Grabenkämpfe und Eifersüchteleien angefangen haben. Der Stress und der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus haben dann zu Migräneattacken geführt.

Also wieder in den Tag: Warenverräumung im Rewe. Lustiges Team, trotz Stress, Zeitdruck und teilweise schwerer, körperlicher Arbeit war es schön, solange bis ein Marktleiter mit Profilneurose nach unten, also in unsere Richtung getreten hat.

Zum Arbeitsamt – ich wollte was komplett Anderes machen. Also Testung. Ich war gerade warm geworden, mitten im Test, kommt eine rein, nimmt mir das Blatt unterm Stift weg und will, dass ich mitkomme.  Ich war aber doch nicht fertig, saß mit offenem Mund da und habe nicht kapiert was los ist.

Meine Ergebnisse haben schon gereicht. Die Psychologin hat gleich gefragt: „Warum haben sie kein Abitur …?“

Ich finde ja toll, dass ich intelligent bin, aber wirklich geholfen war mir damit nicht – habe ich einen Job bekommen? Bessere Betreuung? Wurde ich in die Forschung vermittelt?

Mit Zetteln in der Hand für Studiengänge, die auch ohne Abitur möglich sind, bin ich nach Hause.

Einfach überfordert, aber willens mir das mal zu überlegen. Realitätscheck: Mit dem geringstmöglichen Einsatz das vorgegebene Ziel erreichen.

Was ist das Ziel:

  • glücklich und zufrieden was verdienen,
  • unter Leute kommen ohne schlechtes Gewissen irgendjemand gegenüber.
  • Keine große Bürokratie,
  • keine Grabenkämpfe,
  • keine Hausaufgaben, Deadlines, stupide langweiligen Sachen machen müssen ohne Sinn.

Ich kenn viele Leute mit den unterschiedlichsten Lebensläufen und weiß was das heißt und was dabei rumkommen kann und was nicht. Bin realistisch genug zu wissen was bei mir funktioniert und was nicht.

Also habe ich als Putzfrau angefangen.

Morgens 3 bis 4 Stunden, ab und zu nachmittags, genug Zeit für Ehrenamt, Kinder und Mann.

Was auch gut war, denn:

Es war klar – irgendwas klappt nicht. Eine ähnliche Konstellation gibt es schon mal in unserer Familie und ich wollte nie so eine Mutter werden. Eher ein Feldwebel, ein Spieß. Mein Mann hat viel getan, viel abgenommen. Aber es gab immer mehr Differenzen, auch bei uns: Du bist nicht streng genug, nicht konsequent genug, dies, das.

Bis zur Eskalation in der Schule.

Hausaufgaben – ein Horror. Verzweifelt ab zur Psychiaterin. Tests, Gespräche, Diagnose.

Gezögert, gehadert, zur Medikation entschlossen. Zu zögerlich, zu wenig.

Ich sollte uns filmen bei den Hausaufgaben. Das war ein absolutes Aha-Erlebnis: Ich war schlimmer als Kind 1.

Mein Mann hat viel recherchiert. Ich habe Russel Barkley gefunden: mein Held, mein Retter, mein Messias.

Da Sohn 1 immer mäkliger gegessen hat, hat mein Mann auch in Foren nach Tipps gesucht und ist auf Omega-3-Fettsäuren gestoßen. Hatten wir schon mal versucht – musste fürchterlich aufstoßen.

Also hat er ein Öl gefunden: Efalex – gekauft, versucht und bei der ersten Einnahme sofort auch gesehen wie es wirkt: Gleich nach dem ersten Esslöffel – abends – das erste Mal, wie diese netten Fernsehfamilien am Tisch und in Harmonie zu Abend gegessen.

Das war für uns ein absolutes Wunder.

Wir kamen langsam aus dem Teufelskreis raus, hatten Ressourcen frei, auch mal nach links und rechts zu schauen: Für mich Elterntraining 2-mal und dann 1. auch Fischöl zu nehmen, 2. Studien im Zi Mannheim mitzumachen.

Neurofeedback fürs Kind, Diagnose für mich.

Damit ich bei der Studie quasi auf „meine Normalnull“ bin, habe ich eine Woche vorher kein Fischöl mehr genommen.

Mein Mann packt mir an dem Tag das Öl ein, einen Löffel und bittet mich danach, bevor ich heimfahre, wieder einen ganzen Esslöffel zu nehmen. Ich wundere mich noch, gehe, mach die Tests.

Tue wie geheißen. Zuhause blickt mein Mann mir tief in die Augen und meint, wenn Du das nochmal machst, dann ziehst du solange aus.

Ich wusste nicht was los ist. Er war mit mir über 25 Jahre zusammen, ohne dass ich das genommen hab. Was war los? Er meinte jedes Mal, wenn er sich rumgedreht hat, hätte ich eine andere Laune gehabt. Es wäre sehr anstrengend gewesen, jedes Wort überlegen zu müssen und immer damit rechnen zu müssen, dass ich in die Luft gehe.

Früher war er es ja gewohnt, aber jetzt hat er gemerkt, wie entspannt das Leben mit einer gut gelaunten, ausgeglichenen Frau sein kann.

So habe ich also 2010 meine Diagnose bekommen. Medikation brauchte ich meiner Meinung nach noch nicht, aber man kann ja nie wissen, irgendwann will ich ganztags arbeiten.

Kommentar der Schwestern auf die Diagnose: „Das hätten wir Dir auch sagen können, wir wussten schon immer, dass Du so bist…“

Damals wusste halt noch niemand, dass es eine Diagnose dafür gibt.

Ich habe ehrenamtlich bei der Nachbarschaftshilfe gearbeitet und in Schulbibliotheken, habe mit einer Lehrerin eine kleine Schulbibliothek aufgebaut. 2013 habe ich die Leitung der örtlichen SHG Initiative ADHS „geerbt“. Dann – nach und nach – auch Pöstchen bei der örtlichen Selbsthilfevereinigung übernommen.

Wir sind immer in den Herbstferien nochmal in Urlaub, weil ich mit Herbstdepressionen zu tun hatte, und wenn wir da nochmal weg sind, hat das über die dunkle Jahreszeit gereicht.

2014 wurde bei uns eingebrochen, von Schulkameraden von Kind 1. Zwei habe ich gekannt, einer ist sogar eine Zeitlang bei uns ein und aus gegangen. Dann hat Geld gefehlt, Hausverbot bei uns und an dem Tag als wir in Herbstferien gefahren sind, der Einbruch. Mein Mann hat noch morgens gesagt: „Der hat gesehen, dass ich Koffer eingepackt hab, ich bleib daheim.“ Aber dann sind wir doch los. Da eine Einbruchsserie bei uns war, sind die Schwiegereltern bei uns vorbeigefahren und haben die Einbrecher gestört.

Wir sofort unseren Verdacht an die Polizei weitergegeben. Wollten gleich wieder heim, aber die Polizei meinte, sie hätten Probleme mit der Spurensicherung hinterher zu kommen, wir sollen noch wegbleiben. Wir aus dem Allgäu alles gesperrt und alle Hebel in Bewegung gesetzt.

Zuhause fehlten dann Schlüssel, auch von der Schule. Die Spurensicherung hatte, Gott sei Dank, alles mitgenommen.

Nach einer Woche hatte ich dann keine Kraft mehr und hab Antidepressiva bekommen. Mein Mann und ich hatten Schlafstörungen, Albträume, Gewaltfantasien und so weiter und so fort – was in so einer Situation eben hochkommt. Die ersten Ergebnisse gab es nach 1 Jahr, die Gerichtsverhandlung war 2017.

Wir haben unser Haus renoviert und alles umgeräumt, ausgeräumt, abgewaschen. Uns, in unserem Haus, das Sicherheitsgefühl zurückerkämpft. Kameras installiert und sind dann erst mal nicht mehr in den Urlaub.

Der Richter gab mir bei der Verhandlung die Möglichkeit mich zu äußern. Die Jungs hatten alles zugegeben und eine Verhandlung war nicht mehr nötig. Aber der Richter hat entschieden, dass wir was loswerden könnten und das habe ich genutzt. Nicht im Bösen, denn die Familien waren auch anwesend. Ich habe nur gezeigt, wie doof das war und wie scheißgefährlich und welche Auswirkungen das auf alle hatte.

Die sind unter anderem über die Bahngleise abgehauen. Das ist eine der meistbefahrenen Strecken in Deutschland.

Zwischendurch noch einen ADHSler durch die Schule scheuchen, Mobbing verhindern usw. usf.  Die Schule hat den Hauptschulzweig zugemacht. Aber wir hatten Glück, dass der Nachbarort die gesamte Klasse, inkl. Lehrer, übernommen hat. Kind 2 hatte eine Hundephobie, die gefährlich wurde. Also da auch Therapie, die super geholfen hat. Er hatte Gymnasialempfehlung, aber dort wurde es mit dem Druck und den gegenseitigen Mobbereien so schlimm, dass wir unseren Pazifisten da raushaben.

Ja ein Pazifist. Ruhig, zurückhaltend, brav. Wenn ich nur solche Kinder gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich auch so Blödsinn abgelassen wie: „Alles nur eine Frage der Erziehung…“

Ich wurde mal gefragt, wie ich denn erziehe, da das Kind so lieb ist. Ich meinte nur, ich würde ja gerne angeben, aber ich habe auch noch den großen Bruder dabei und der ist im Moment kurz vorm Eskalieren. Wenn ich da jetzt nicht sofort eingreife gibt es Verletzte.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, zumindest bei Kind 1. Bei uns wurde es nie langweilig.

Daher suchte ich beim nächsten Berufswechsel wieder nur was in Teilzeit.

Ich wurde dann Alltagsbegleitung in einer Seniorenresidenz, das war eher Hauswirtschafterin. In einem Wohnbereich mit 12 Personen in Wechselschicht Essen zubereiten und bei der Betreuung der Personen unterstützen. Das war im geschützten Bereich, bei hochdementen Personen mit Hinlauftendenz und anderen Besonderheiten. Viele neurodiverse Kollegen und -innen und divers.

Sehr erfüllend, aber auch anstrengend. Zum Schluss hat man nur noch unterschieden zwischen Dienst und dienstfrei. Wochenenden, Sonn- und Feiertage gab es für mich nicht mehr…

Mann und Familie haben um Änderung gebeten.

Also auf zu neuen Ufern. In einem kleinen familiären Betrieb, Vollzeit im Büro, als Mädchen für alles und noch mehr…

Ich helfe auch der Chefin beim Putzen ihrer Ferienappartements.

Nur Zuhause funktioniert das mit dem Putzen und Aufräumen irgendwie nie …

Trotz dem abwechslungsreichen Tätigkeitsfeld bin ich wieder unruhig und unzufrieden und will wieder was Neues.

Wie ich heute weiß, hat das erstmal nix mit meinem Umfeld zu tun, sondern mit meinem Charakter und dem ADHS.

Medikation nehme ich nach Bedarf, im Moment sehr selten, da in den Wechseljahren die Hormone dazwischenfunkten. Zeitweise war es so schlimm, dass ich super aggressiv war, PMS vom Feinsten.

Dann noch Rebound, wenn ich meine Dosis Medikinet nahm. Nicht gut. Ich habe eine Zimmertür eingetreten, hatte auf dem Kauflandparkplatz ganz böse verbale Ausraster. Daher habe ich nur noch Medikinet in homöopathischen Dosen genommen und ließ mich von der Frauenärztin hormonell einstellen.

Im Moment ist es unbefriedigend im Geschäft, stressig und, und, und. Viele Neurodiverse um mich rum.

Aber warum nicht den Kopf abschalten und „Ja und Amen“ sagen, alles am Arsch vorbei, nach Schema F.

Schließlich kann man sich ja im Privatleben verwirklichen.

Ich habe keinen Bock wieder auf die Suche, wieder Umstellung. Ich hatte immer das Glück gut mit den Öffis, Fahrrad, Roller – zur Not zu Fuß – zur Arbeit zu kommen. Kein Weg war länger als 4 km einfach.

Ich könnte nie eine Stunde ins Geschäft fahren.

Im Urlaub bin ich nur 2-mal wirklich weit weggeflogen. Das war mir alles zu anstrengend, Jetlag etc.

Ich war dafür zu faul, zu sehr dann an der eigenen Scholle fest. Bin lieber mit den Kindern von zuhause aus in Parks, in Schwimmbäder, Spielplätze, Wald… mit dem Wohnwagen in Deutschland, Boot fahren in Holland. Erholung im Allgäu.

Mehr brauch ich auch nicht. Ich höre gerne Leuten zu, wenn sie erzählen von Abenteuer Karriere etc.

Aber Neid? Ich weiß, dass ich, egal welche Wege ich eingeschlagen hätte, immer mich selbst mitgenommen hätte, egal ob Holzhütte oder Elfenbeinpalast.

Meine Grundbedürfnisse sind einfach. Mein Glück, meine Freude finde ich immer in den einfachsten Dingen.

Kleines Beispiel: Eine Kindergartenmutter hat von ihrem tollen Beruf als Flugbegleiterin erzählt.

Viele VIPs, tolle Orte, super Verdienst, ein Traum. Am nächsten Tag war eine Freundin mit den Kindern bei uns, als sie am Himmel ein Flugzeug sah, meinte sie auch: „Sieh mal, da ist xy vielleicht drin und fliegt wieder.“ Ich habe das erste gesagt, was mir durch den Kopf schoss: „Die arme Sau.“

Meine Freundin blickte mich schockiert an, sah, dass es mir wirklich ernst war, schaute zu den Kindern, die sich im Pool amüsierten, schleckte an ihrem Eis, lehnte sich auf der Sonnenliege zurück, nahm ihr Buch wieder in die Hand und meinte: „Weißt du was, du hast Recht, ich wollte auch nicht tauschen.“

Was, wenn ich früh die Diagnose bekommen hätte – Medikamente, Förderung meiner Begabung, Abitur etc. Wo wäre ich dann? Wäre ich glücklicher?

Oder hätte ich mir an irgendeinem bürokratischen Hindernis, an irgendeinem in Granit gehauenen Kodex den Schädel eingeschlagen und würde mit Depressionen im Burnout-Loch hocken und nicht mehr rauskommen.

Zwischendurch habe ich noch rausbekommen, dass das Ohrgeräusch, das Pfeifen und Rauschen einen Namen hat: Tinnitus. Und das Kribbeln in den Beinen, das nicht ruhig halten können auch: Restless Legs.  Eigentlich kann man mit so was und dem Zirkus im Kopf ja kaum schlafen. Dann habe ich die Therapiedecken für mich entdeckt: Ich leg mich ins Wasserbett, schmeiß mir die 10-kg-Decke über, dreh mich rum und schnarche.

Mittlerweile sind die Kinder volljährig. Nummer 1 fertig mit der Lehre, unbefristeter Vertrag. Auf dem Weg dahin habe ich einiges an Nerven gelassen.

Nummer 2: 2. Lehrjahr im Wunschberuf, im Wunschbetrieb. Läuft fast von alleine.

Gesund, zufrieden. Nun ja, der ADHSler hat, wie soll es anders sein, nicht gerade neurotypische Freunde. Was da los ist darf sich jeder selbst denken.

Wir Eltern genießen, dass wir frei sind, gehen alleine weg, allein in Urlaub. Finanziell geht es gut und sonst ist auch alles in Butter.

War ja klar, dass jetzt eine weltweite Pandemie ausbricht, wäre ja auch schlimm wenn es auf einmal langweilig werden würde …

Da wir aber sehr genügsam sind, wird nicht gejammert.

Wäre ja auch auf hohem Niveau: Alle haben gute, sichere Jobs, Haus mit großem Garten, WLAN, Sky, Netflix.

Ich hatte selten das Bedürfnis nach höher, schneller, weiter, mehr, größer, immer das Neueste.

Wenn das mal so war, hat der Realitätscheck das schnell wieder geradegerückt.

Wir wägen immer ab, was bringt es – was kostet es uns.  Nicht nur an Geld, sondern auch Einsatz, Zeit Energie.

Ein gutes Leben, das ist was ich will, und dafür brauch ich nicht viel.

Mein Name ist Melanie und ich bin 48 Jahre alt.

Ich habe ADHS im Erwachsenenalter und bin eine sogenannte Spätdiagnostizierte.

Dass ich meine Diagnose bekam, habe ich vor allem der Gründung meiner Selbsthilfegruppe und meinem Mann zu verdanken.

Hart erlernt und antrainiert, dass ich andere Menschen in Gesprächen nicht zu unterbrechen habe, falle ich kaum unangenehm auf den ersten Blick auf.

Menschen, die mich nicht näher kennen, würden mir die Diagnose vermutlich nicht sofort anmerken.

Man sagt mir nach, ich wäre eloquent, redegewandt und gescheit.

Vermutlich stimmt das auch, allerdings alles hart erarbeitet und niemals war ich die, die ich eigentlich bin.

Von vorne: Mein Elternhaus war speziell und für damals sicherlich nicht der Standard.

Wir waren mit drei Generationen in einer Doppelhaushälfte, die mein Opa eigenhändig gebaut hatte.

Da mein Vater – nett ausgedrückt – aber auch nicht dem Mainstream entsprach, war meine Kindheit alles andere als normal.

Das mache ich an dieser Stelle mal kurz: Meine Eltern haben mich nicht erzogen, das waren meine Großeltern.

Meine Eltern wohnten zwar im gleichen Haus, allerdings hatte meine Mutter die Aufgabe, sich um meinen Vater zu kümmern.

Der ertrank in Manie oder in Depressionen und bekämpfte das Ganze mit viel Alkohol und Gewalt und Unzuverlässigkeit.

Mit dem Wissen von heute, habe ich es von ihm geerbt …

Meine Oma und mein Opa taten, glaube ich, ihr Bestes. Ich habe nicht so viele Erinnerungen, die das Gegenteil behaupten lassen.

Bis vor ca. 2 Jahren hatte ich generell nicht so viele Erinnerungen an meine Kindheit.

Oder nur solche, die ein verzerrtes Bild wiedergaben und ich nicht mehr wusste, ob das wirklich so war oder ob ich es mir zurechtgelegt hatte.

Einen Kindergarten besuchte ich damals nicht, hielten meine Eltern, bzw. meine Großeltern nicht für nötig.

Meine Schulzeit weist leider auch große Erinnerungslücken auf und diese Zeiten, an die ich mich erinnere, sind der absolute Horror!  

Grundschule ging wohl noch, wobei ich dort schon gemerkt habe, dass ich in keine Gruppe passe.

Den Unterricht habe ich mir durch quatschen angenehm gestaltet.

Das zog sich eigentlich durch meine gesamte Schulzeit hindurch, Hausaufgaben wurden im Bus erledigt, ich habe es einfach zuhause nicht hinbekommen.

Und es ist nicht so, dass ich es nicht wirklich versucht und auch gewollt habe, es hat einfach nicht geklappt, mich irgendwie zu strukturieren.

Lernen ging nicht!

 Sprachen fand ich zwar interessant, da brauchte ich wohl auch nicht lernen, allerdings hörte der Spaß bei Zahlen auf.

Wirklich erst in der Berufsschule fand ich einen Lehrer, der mir annähernd verständlich erklären konnte was Prozentrechnen bedeutet.

Alles was mit Rechenwegen zu tun hatte, habe ich schon nach wenigen Minuten vergessen … weg, einfach im Nirwana verschwunden!

Ja, man kann es sich fast denken, so blieb das auch.

Das wurde natürlich von Zuhause aus auch noch befeuert. Mein Vater hat oft wiedergegeben, was er vermutlich als Kind selbst oft hörte: Du kannst einfach nichts, du bist sogar zu blöd einen Eimer Wasser umzukippen!

Ein Spruch der sich in meinem Stammhirn festgefressen hat, bis heute fällt es mir schwer, das nicht zu beachten …

Zwar habe ich meine erste Lehre als Verkäuferin im Einzelhandel beendet, also mit viel krank sein und ständig erschöpft, aber beendet.

Und so begann meine berufliche „Nichtkarriere“.

Ich machte zig verschiedene Jobs, ohne Erfolg und irgendwann machte ich eine Umschulung … in der wurde ich dann mit meiner ersten Tochter schwanger.

Somit habe ich zwar die Prüfung noch gemacht, mir fehlte aber das Anerkennungsjahr.

Und jetzt hatte ich auch noch ein Kind dazu.

Bis dahin hatte ich viele Beziehungen, meistens zu Chaoten oder Blendern, die alle nicht hielten.

Zuletzt fand ich mich damit ab, dass mich Partner irgendwann einfach generell langweilten und ich auch immer überheblicher Weise dachte, die können mir doch gar nicht das Wasser reichen.

Somit war klar: Ich bin beziehungsunfähig!

Ein großes Problem war ja auch immer meine Unruhe. Es war wie eine ständige Suche nach etwas, was ich nicht benennen konnte.

Es musste immer ausgefallener und schräger sein.

Höher, schneller, weiter war irgendwie eine meiner Devisen.

Habe ich etwas angefangen, dann habe ich es nicht einfach beendet, nein ich habe immer krass übertrieben.

Schon immer hatte ich riesige Probleme, mich in größeren Gruppen zurechtzufinden.

Gespräche verfolgen bei diversen Hintergrundgeräuschen, adäquate Antworten geben auf Fragen, die mir mein Gegenüber stellt … wie soll das gehen, wenn ich doch die Gespräche der anderen im Raum auch alle höre und am liebsten mit allen gleichzeitig rede …

Vor allem hatte ich beim Antworten häufig die Frage schon wieder vergessen und redete mich um Kopf und Kragen.

Ergo, große Treffen mit mehr als 5 oder 6 Leuten waren und sind oft noch die Hölle für mich.

Simple Veranstaltungen immer noch eine Herausforderung, von Partys brauchen wir gar nicht reden … die konnte ich nur mit viel Alkohol oder einfach nur auf der Tanzfläche überstehen.

Immer wieder schön auch, Kinobesuche! Wie kann man ins Kino gehen und 10 Minuten nach Abspann schon die ersten Details des Films vergessen?

Den Namen des Hauptdarstellers, den Titel … und das, obwohl ich den Film doch gut finde?!

Das versteht niemand, das ist einfach mit klarem Verstand nicht erklärbar!

Deshalb fanden und finden mich die Menschen seltsam.

Auch Aktivitäten mit mehreren zusammen waren und sind mitunter einfach ermüdend, weil die Aufmerksamkeitsspanne einfach schnell reißt und damals war ich einfach immer wieder in einem unerklärlichen Zustand von „What the fuck ist mit mir nicht in Ordnung???“

Und im Anschluss hinterließ ich in der Regel einen Scherbenhaufen!

Jetzt war aber ein Kind da und ich habe gemerkt, es muss sich etwas ändern.

Nur was? Meine Schulden zahlten meistens meine Großeltern oder mein jeweiliger Partner schaffte es immer wieder den Kuckuckskleber fernzuhalten.

Da hatte es damals eine Frau noch etwas einfacher als ein Mann.

Als es mal wieder hieß: Alarm, alles auf Anfang. Hatte ich mich vom Vater meiner Tochter, mit dem ich glücklicherweise nicht verheiratet war, getrennt.

Ich zog mit meiner 2-Jährigen kleinen Maus in eine kleine Wohnung und hatte mir mal wieder vorgenommen: „Jetzt bekommst du aber dein Leben auf die Kette.“

Ordner gekauft – denn das ist eine meiner größten Herausforderungen im Leben: das Strukturieren und Abheften von Rechnungen oder Verträgen – und wirklich fest vorgenommen, jetzt wird alles regelmäßig abgeheftet und geordnet.

Da stieß plötzlich ungeplant und ungewollt, mein Mann in mein Leben! Der eine Mann, der, wo man sofort weiß, der ist es!

Bäm!

Der war anders, der hatte die Ruhe weg.

Ich, immer 30 Tabs zeitgleich im Hirn geöffnet, hatte einen Mann vor mir, der sich für Zahlen interessierte.

Der, selbst wenn ich innerlich kochte und irgendwann konnte ich meine Impulsivität nicht mehr verbergen, auch laut und ungerecht wurde, immer noch mit monotoner Stimme, gleicher Mimik, völlig entspannt auf mich wirkte…

Den musste ich einfach festhalten, der tat mir einfach gut.

Und dem Himmel sei Dank, das ist bis heute geblieben, wir ergänzen uns einfach immer wieder.

Auch ein völlig verplanter, impulsunkontrollierter, verrückter ADHS-Mensch, kann eine glückliche Beziehung führen!

Und wieder hatte ich jemanden gefunden, der einfach mein Defizit ausglich und einfach meinen Papierkram und meine Post mit übernahm.

Das Thema, was mich immer geärgert hatte und bis heute mich an den Rand des Wahnsinns treibt, macht einfach mein Mann.

Er kümmert sich um alles, was mit Versicherungen … zu tun hat.

Irgendwann haben wir geheiratet und uns noch ein oder sogar zwei Kinder gewünscht.

Unsere Tochter war ein recht ruhiges, sehr belesenes Kind.

Sie ging gerne zur Schule und war schon immer recht autark und selbstständig, hat immer alleine Hausaufgaben gemacht, sich selbstständig organisiert und es war schnell klar, dass sie auf ein Gymnasium geht.

Dann war ich schwanger und mein Sohn kam auf die Welt.

Eigentlich waren das mit, meine schönsten Jahre.

Was sich aber – schneller als gedacht – recht schwierig gestaltete, war tatsächlich, dass mein Sohn, so ganz anders als meine Tochter, ein ganz anderes Wesen und Gemüt hatte.

Schon mit ca. 2 Jahren war ziemlich auffällig, dass sich mein Sohn als dominant und sehr bewegungsfreudig, hyperaktiv darstellte.

Und zwar sehr stark auffällig.

Aber wie das so ist, man denkt: ja das ist schon normal so, ist ja ein Junge, der ist lebhaft, Geschwister sind schließlich unterschiedlich… etc.

Dass er aber als fast 3-Jähriger vor Wut so lange mit dem Kopf gegen eine Wand schlug bis Blut kam, empfand ich aber als nicht normal.

Aber auch der Kinderarzt und Großeltern, Freunde und Nachbarn meinten einfach, das liegt eben an der Erziehung.

Ich war eigentlich rückblickend gesehen, schon als mein Sohn in den Kindergarten ging, ziemlich am Ende meiner Kräfte.

Mein Mann war beruflich viel unterwegs, auch im Ausland, meine Schwiegermutter 160 km entfernt, Tagesmutter oder Babysitter waren auch überfordert, die kamen meist nur ein-, zweimal …

So stand ich meistens alleine da, obwohl ich schon auf Reserve lief.

Und so drehte sich alles nur noch um unseren Sohn …

Meine Tochter bekam viel zu wenig Aufmerksamkeit, mein Sohn dafür die ganze – und die von allen Menschen.

Die Kindergartenzeit ging mit viel Tamtam und Beschwerden an mich, dass mein Sohn total unsozial wäre, zu ende.

Die Einschulung stand an. Was bei meiner Tochter ein kleines Highlight war und mit Familie zelebriert wurde, war bei meinem Sohn ein Anfang vom Ende.

Bei uns begann tatsächlich die Hölle und zwar von Beginn an.

Dass sich der kleine Mann nicht für Schule interessierte und eigentlich auch nicht dorthin wollte, hat sich in fast 18 Jahren auch nicht geändert.

Eine Zeit des Schule-Wechselns, Therapien und Diagnosen-Finden ging los und raubte mir fast alle Kraft.

Ich hatte mehr Jugendamt-Mitarbeiter und Erziehungsprofis in meiner Küche, als Essen im Kühlschrank.

Ich arbeitete mittlerweile wieder in Teilzeit, mal für die Diakonie, dann in einer Bäckerei und zum Schluss im Innendienst im Büro.

Auf der Arbeit war ich eigentlich immer gerne: Flucht vor zuhause und dem mittlerweile kaum noch erziehbaren Sohn und seinen oppositionellen Verhaltensweisen, die nämlich immer schlimmer anstatt besser wurden.

Keine Therapie, kein Medikament, keine Einrichtung brachte längerfristigen Erfolg.

Vor ca. 2 Jahren dann war ich – gefühlt von heute auf morgen – nicht mehr ich selbst.

War ich doch zuvor immer sehr optimistisch und trotz unserer Chaoten-Zustände immer wieder positiv für einen neuen Tag gepolt, dachte immer: „Mein Gott, was jammern die anderen eigentlich immer, morgen ist ein neuer Tag, die Sonne geht doch wieder auf.“

Für mich blieb die Sonne aber nicht nur hinter den Wolken, für mich gab es plötzlich nie wieder Sonne!

Freuen konnte ich mich schon lange nicht mehr …

Ich war in einer tiefen Depression angelangt und wenn ich nicht schon eine Reha-Maßnahme beantragt hätte, die dann auch zügig stattgefunden hat, dann würde ich diese Zeilen heute nicht tippen.

Eine mittlerweile gute Freundin, hatte mich schon Anfang des Jahres gedrängt, aufgrund der SHG, ich sollte mich doch auch mal testen lassen.

Mir war schon seit einigen Jahren bewusst, dass ich meinem Sohn das ADHS weitervererbt hatte.

In einer Mutter-Kind-Kur, die wir beide machten, sprach mich eine Therapeutin direkt darauf an und äußerte ihren Verdacht bei mir.

Da habe ich noch ganz ADHS-like mit Wut reagiert, sagte ihr: „Wie können Sie mir so etwas unterstellen?“ Und habe nie mehr mit ihr ein Wort gewechselt.

Nach einigen weiteren Jahren war es aber nicht mehr von der Hand zu weisen – mein Mann war sich da auch recht sicher.

Wir wussten ja jetzt viel über die Störung, war ja auch plausibel, mein Vater war ja auch ein seltenes Exemplar.

Eine Testung hatte ich zwischenzeitlich auch mal angefangen, langsam wollte ich auch wissen was mit mir nicht stimmte.

Das fragte ich mich auch immer öfter jetzt …

Es stellte sich ja nicht nur eine Depression ein, sondern mittlerweile war ich fest davon überzeugt, dass ich auch einen Morbus Alzheimer entwickelte.

Mittlerweile war ich vergesslicher denn je, das konnte nur pathologisch sein!

Leider ist es heute ja immer noch schwer die richtige Anlaufstelle zu finden. Die, die ich fand, war dann auch gleich mal unterirdisch schlecht!

Drei Termine sollten stattfinden. Nach dem ersten Termin, also nach ca. 40 Minuten Gespräch, diagnostizierte man mir eine bipolare Störung vielleicht, eine ADHS könne man bei mir nicht sehen…

Da ich etwas medizinisches Hintergrundwissen habe, konnte ich ausschließen, dass ich BP bin!

Die Kompetenz habe ich denen direkt mal abgesprochen und bin nie wieder hingegangen, nachdem ich danach fast 3 Wochen am Stück nur geheult habe…

Jetzt sollte ich mich doch testen lassen?

Es ging mir wirklich schlecht, ich war in keiner guten Verfassung mehr.

Hatte immer mal wieder mir unbegründete Heulattacken, auch in der Öffentlichkeit.

Megapeinlich, ich wohne in einem Dorf.

Was sich auch immer wieder mal dazugesellte waren Panikattacken im Supermarkt, zuletzt auch in der Waschanlage, obwohl mein Mann neben mir saß…

Ich wusste, dass ich mittlerweile Hilfe brauchte und zwar dringend!

Meine Freundin bot mir an, dass wir es zu zweit machen sollten, ihr Sohn sei schließlich auch betroffen, sie könne es ja auch haben…

So kam der Ball schließlich ins Rollen, mein Mann half mir beim telefonieren und Termine bekommen. Ich wechselte endlich mal meinen Hausarzt, zu einem der mich jetzt mal ernst nahm!

Und so ging es dann doch innerhalb von einem halben Jahr schneller als gedacht und ich hatte meine Diagnose schriftlich.

Ändert sich ja nichts, dachte ich noch so …

Und ob sich etwas änderte.

Ich stürzte erstmal richtig ab, zu einem Zeitpunkt, wo es gar nicht passte.

Trotz, dass mir das verordnete Methylphenidat half, mich wesentlich besser zu konzentrieren und endlich mal etwas Ruhe in den Kopf kam.

Es musste dringend etwas passieren, ich hatte mittlerweile jeden Tag Herzrasen und Panikattacken.

Manchmal bekam ich morgens vor lauter Zittern den Schlüssel im Büro nicht in die Tür.

Meistens war ich die erste und meine beiden Chefs kamen erst immer gegen 10 Uhr, so konnte ich mich bis dahin wieder beruhigen und ausdampfen oder auf dem Klo ausheulen.

In dem kleinen 8-Mann-Büro hatte ich meinen Platz im Durchgangsraum, direkt an der Terrassen-Tür.

Dass mir der Job so viel Stress machte, obwohl ich doch eigentlich zufrieden sein sollte, konnte ich nicht zusammenbringen im Kopf!

Dass die ewigen Kundenbesuche, die immer um mich herumsaßen, die Chefs, die immer hinter meinem Stuhl zigfach auf die Terrasse gingen … das war mir einfach nicht bewusst und klar, dass das der Stressfaktor für mich war, der am schlimmsten war.

Was ich wusste war, dass es mir immer schwerer fiel, Namen zu behalten, die Telefonate zu führen, während meine Chefs sich neben meinem Schreibtisch laut unterhielten…

Ich war aufgebraucht, am Ende meiner Kräfte, in allen Bereichen des Lebens.

Niemanden wollte ich mehr sehen, nichts wollte ich mehr machen, ich wollte nur noch schlafen und am liebsten nicht mehr wachwerden.

Dann kam die Reha, ich hatte großes Glück, dass meine Wunschklinik, die mein Psychiater angegeben hatte, von der Rentenkasse, so bewilligt wurde.

Die Klinik war bekannt dafür, dass sie sich mit ADHS auskennt.

Obwohl ich mit akuten Depressionen dorthin geschickt wurde, nahm man dort meine Primärerkrankung ernst.

Diese 5 Wochen waren ein Segen für mich, waren so zu sagen meine Rettung.

Auch wenn das harte 5 Wochen waren und ich mich erstmal darauf einlassen musste, dass ich jetzt plötzlich meine Geschichte erzählen sollte, so hat es mir doch die Augen geöffnet.

Viel gelernt habe ich dort und auch in der Tagesklinik, in der ich anschließend war.

Gelernt, dass ich anders ticke und dass ich achtsam mit mir selbst sein muss und dass ich nicht alleine bin.

Es gibt so viele Frauen, die einfach durch das Raster rutschen, die einfach so angepasst und trainiert sind, die ihre Leitsätze aus der Kindheit einfach übernommen haben, nie hinterfragt haben…

Frauen, die seit Jahren depressiv sind, auf Borderline reduziert werden, dem Alkohol verfallen, andere Drogen nehmen…

Durch die Selbsthilfegruppe und durch die Therapien, habe ich so viele Menschen kennengelernt, denen ein langer Leidensweg erspart hätte bleiben können, wenn mal ein Therapeut, Psychiater, Neurologe etc. auf ADHS gekommen wäre.

Es gibt einfach viel zu wenige, die sich damit auskennen.

Viele Mythen um Ritalin und der ewig Über-Tisch-und-Bänke-springende-kleine- Junge ist einfach ein Phänomen, das noch vorherrscht.

Wir müssen einfach einen seriösen Umgang mit psychischen Erkrankungen und eine Akzeptanz für die Medikamentierung schaffen.

Das ist mir ein großes Anliegen.

Hoffentlich stellt sich irgendwann eine Art Normalität im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten ein. Vielleicht lernen wir, dass man schon im Schulalltag integrieren könnte, das wir genauso sind wie Stinos, halt nur eben anders!

Mein Name ist Melanie, ich bin 48 Jahre alt und ich lerne jeden Tag mit meinen Besonderheiten zu leben.