Die Erklärung für Mädchen und Frauen wurde erstmals im Oktober 2017 anlässlich des ADHS-Bewusstseinsmonats Oktober veröffentlicht. Da unsere Stimmen immer noch gehört werden müssen, wurde diese Erklärung im Oktober 2022 neu aufgelegt.
ADHS-Europa hat eine Erklärung veröffentlicht, um auf die Notwendigkeit eines besseren Verständnisses der Erscheinungsformen von ADHS bei Mädchen und Frauen hinzuweisen, damit diejenigen, die in ganz Europa – und sogar weltweit – noch immer nicht diagnostiziert werden, in Zukunft die erforderliche fachliche Betreuung erhalten. Diese Erklärung enthält wichtige Empfehlungen, die darauf abzielen, die dringend erforderlichen Änderungen herbeizuführen und so die Situation zu verbessern. Erklärung zu ADHS bei Mädchen und Frauen
Erklärung zu ADHS bei Mädchen und Frauen
Wir von ADHD Europe fordern mehr Aufmerksamkeit für die Situation der unzähligen Frauen und Mädchen mit nicht diagnostiziertem ADHS in Europa und der ganzen Welt.
Wir sagen unzählig, weil aufgrund der Art und Weise wie sich ADHS bei Frauen und Mädchen äussert und aufgrund des mangelnden Verständnisses für die Erkrankung bei Frauen viele nicht oder falsch diagnostiziert werden. Die Folge ist, dass diese Mädchen und jungen Frauen mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen haben, wie wir sie in dieser Erklärung beschreiben.
Wir wünschen uns, dass Europa und die Welt unseren Aufruf hört und erkennt, dass diese Mädchen und Frauen mit der entsprechenden Anerkennung und Unterstützung aktive Mitglieder ihrer Gemeinschaften und Länder werden und ihr Potenzial ausschöpfen können.
In dieser Erklärung werden die Erfahrungen von Mädchen und Frauen mit ADHS, derjenigen, die mit ihnen arbeiten, sowie wissenschaftliche Erkenntnisse dargelegt. Zudem haben wir Empfehlungen und Aufrufe zum Handeln formuliert, um die Probleme anzugehen. Wir fordern im Namen der Betroffenen Frauen und Mädchen, dass diese umgesetzt werden.
Aus einer Reihe von Forschungsergebnissen und praktischen Erfahrungen geht hervor, dass die Beurteilung und Diagnose von ADHS bei Mädchen komplexer ist als bei Männern. Dies liegt zum Teil daran, dass ADHS bei Mädchen möglicherweise später auftritt , da sich die Symptomatik bei Frauen anders entwickelt.
Der vorwiegend unaufmerksame ADHS-Typ kommt bei Mädchen und Frauen häufiger vor als bei Jungen und Männern. Diese ADHS-Symptome werden von medizinischen Fachkräften jedoch immer noch weitgehend missverstanden. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit diesem Typus eine Diagnose erhalten sehr gering. Die Fachkräfte verwechseln die Symptome der ADHS vom vorwiegend unaufmerksamen Typ mit Gemütsstörungen, Angstzuständen oder anderen verwandten Erkrankungen. In der Tat kann sich ADHS bei Frauen als subtilere oder innere Problemstellung äussern (z. B. Ängstlichkeit, Unaufmerksamkeit) und weniger als äußere (z. B. Aggression, herausforderndes Verhalten). Im Klassenzimmer fallen Mädchen nicht unbedingt durch äußerlich impulsives oder hyperaktives Verhalten auf. Sie neigen eher dazu, ihre impulsiven Aktionen gegen innen zu richten. Sie sind dadurch stark abgelenkt und innerlich unruhig.
“Man jagt ständig den eigenen Gedanken hinterher und versucht gefühlt, konstant das Chaos unter Kontrolle zu halten. Das Chaos in jedem Bereich des Lebens, innerlich und äußerlich. Das fühlt sich irritierend (und stressig) an – man übernimmt zu viele Aufgaben und kann sie dann nicht oder nur unzulänglich erledigen.” (Karla, 43 Jahre)
Diese innere Unruhe zeigt sich bei einem Kind beispielsweise darin, dass es ständig an seinen Haaren herumfummelt, kritzelt, in Gedanken versunken ist, tagträumt und wichtige soziale Signale verpasst. Unaufmerksamkeit und internalisierende Probleme sind für die Betroffenen belastend, für die Mitmenschen, z. B. Lehrer aber weniger problematisch. So fallen diese Frauen durch das Netz und kämpfen allein, oft im Stillen.
ADHS bei Frauen steht auch im Zusammenhang mit emotionaler Dysregulation und psychischen Problemen. Dies könnte eine biologische Grundlage haben. Die Forschung hat gezeigt, dass Veränderungen des Östrogenspiegels während der Pubertät und darüber hinaus Mädchen mit ADHS-Symptomen stark beeinträchtigen können. Sie sind deutlich anfälliger für schwere prämenstruelle Stimmungsschwankungen, Depressionen und/oder Angstzustände.
In der Adoleszenz fehlen Mädchen mit ADHS möglicherweise die notwendigen Bewältigungsstrategien. Die in der Kindheit entwickelten Bewältigungsstrategien funktionieren oft nicht mehr. Infolgedessen sind die betroffenen Mädchen bei sozialen, schulischen und familiären Aufgaben stärker beeinträchtigt als Mädchen ohne ADHS.
” Meine Stimmungsschwankungen waren so dramatisch, dass jede Art von Beurteilung überschwängliche Glücksgefühlen oder alternativ Selbstmordgedanken auslösen konnte. Nach einem gescheiterten Geschäftsvorhaben kam ich in die Obhut eines örtlichen Krisenteams für psychische Erkrankungen, weil ich glaubte, dass es meiner “Familie und der Welt ohne mich viel besser gehen würde”.(Michelle Beckett, Diagnose: 44 Jahre)
Das Aufrechterhalten von Freundschaften in der Adoleszenz wird durch die Vergesslichkeit, das Verpassen von Verabredungen mit Freunden, das scheinbare Desinteresse an dem, was ihre Freunde zu sagen haben und dem Anschein von Selbstbezogenheit beeinträchtigt/behindert.
“Es ist frustrierend, sich nicht immer im Einklang zu fühlen, mit dem was eine Person zu einem sagt, weil die Gedanken abschweifen und man nicht gut bei der Sache bleibt, es sei denn, es handelt sich um ein sehr intensives Gespräch.” (Karla, 43 Jahre)
Wenn ein Mädchen mit ADHS beim Eintritt in die Pubertät und das junge Erwachsenenalter nicht diagnostiziert oder behandelt wird, kommt es fast zwangsläufig zu einer Reihe von Anpassungsproblemen, die zu weiteren Störungen führen können, wie z. B. einer Essstörung (Bulimie, Magersucht) oder einer Persönlichkeitsstörung. Zu den weiteren typischen Verhaltensweisen dieser Mädchen gehört frühe sexuelle Aktivität, die vom Bedürfnis getrieben wird, sich gut zu fühlen und dem fehlgeleiteten Wunsch, gemocht und beliebt zu sein – eine Art Selbstbehandlung für ein chronisch geringes Selbstwertgefühl.
Dieses mitunter impulsive Verhalten führt zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr, einer höheren Rate von Teenagerschwangerschaften und sexuell übertragbaren Infektionen. Auch kann sich bereits während der Schulzeit die Gewohnheit zu rauchen entwickeln.
In der Folge führt die nicht diagnostizierte oder unbehandelte ADHS dazu, dass Erwachsene mit ADHS häufiger geschieden werden, alleinerziehend sind, eine geringere Schulbildung haben, unterbeschäftigt oder arbeitslos sind und unter Schlaflosigkeit und ständigem Stress leiden. Grund sind die Schwierigkeiten, die von der Gesellschaft an sie gestellten Anforderungen des täglichen Lebens zu bewältigen. Die Impulsivität einer unbehandelten ADHS führt zudem zu einer erhöhten Unfallrate und einer daraus resultierenden geringeren Lebenserwartung verglichen mit Mädchen mit behandelter ADHS. Mädchen mit nicht diagnostizierter oder unbehandelter ADHS begehen zudem häufiger Selbstmord als ihre neurotypischen Altersgenossen.
Für junge Mütter verschärfen sich diese Lebensprobleme zusätzlich: “Man meidet Frauengruppen, besonders Müttergruppen, die man wahrscheinlich am meisten braucht, aber der ständige Vergleich mit einer organisierten Mutter oder einer Frau, die etwas erreicht, ist extrem deprimierend, denn Prokrastination ist ein großes Problem.” (Karla, 43 Jahre)
Es liegt auf der Hand, dass die Probleme von Frauen mit nicht diagnostizierter oder unbehandelter ADHS eine schwere Belastung für die Einzelne und die Gesellschaft darstellen.
Um die Rate der Diagnosen und Behandlungen signifikant zu erhöhen, müssen die Indikatoren (Symptome) von ADHS bei Frauen und Mädchen von Eltern, Lehrern, Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Gesellschaft im Allgemeinen besser verstanden werden. Die ADHS-Diagnose bei Mädchen und Frauen sollte unter Einbezug der Symptomgeschichte erfolgen und darauf beruhen, wie sich ADHS bei Mädchen und Frauen klinisch darstellt. Insbesondere sollten zufriedenstellende schulische Leistungen eine Diagnose nicht ausschließen, da ADHS auch bei hochintelligenten Frauen auftritt.
Empfehlungen/Aufrufe zum Handeln:
Die Bewertung von ADHS bei Mädchen ist komplizierter, deshalb besteht ein Bedarf an:
• mehr Forschung, die sich darauf konzentriert, wie ADHS bei Mädchen und Frauen aussieht (d. h. wie es sich klinisch darstellt)
• geschlechtsspezifische Checklisten zur Identifizierung und Diagnose von Mädchen und Frauen mit ADHS
• Screening-System, das ADHS bei Mädchen und Frauen mit Essstörungen, Angstzuständen, Depressionen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch erkennt und bewertet
Mehr Schulungen für Eltern, Pädagogen, Schulpersonal, Kinderärzte,
Kinder-/Jugend-/Erwachsenenpsychiater und Psychologen über:
a) die Indikatoren für ADHS bei Mädchen und Frauen,
b) die Komorbiditäten, die häufig mit ADHS bei Mädchen und Frauen einhergehen,
c) die Rolle von Emotionalität bei dieser Art von ADHS,
d) die Art und Weise, wie Östrogen die Stimmungsschwankungen bei Mädchen mit ADHS in der Pubertät beeinflusst,
e) die Prävalenz von Essstörungen bei Mädchen mit ADHS-Symptomen und
f) die Häufigkeit von Angstzuständen und Depressionen bei Mädchen und Frauen mit ADHS.
Eingetragen Oktober 2017 von
Andrea Bilbow, Präsidentin
ADHD Europe AISBL
www.adhdeurope.eu
UND die Mitglieder des ADHD Awareness Action Committee:
Isabel Rubio (Fundacio ADANA, /Spanien); Dr. Ed. Joanne Norris (Education Chair: ADHD, ASC & LD Belgium); Suzette Everling, (Treffpunkt ADHS, Luxemburg); Ute Kögler (Juvemus, Deutschland; Rose Kavanagh (INCADDS, Irland); Marie Enback (ADHD Mind and Mission AB, Schweden)
Beiträge von
Dr. Kate Carr–Fanning, Vizepräsidentin und Mitglied des Fachbeirats von ADHD Europe
Dr. Sandra Koojj, Mitglied des Fachbeirats von ADHD Europe
Karla, die als Erwachsene mit ADHS diagnostiziert wurde
Michelle Beckett, die im Alter von 36 Jahren mit ADHS diagnostiziert wurde
UND die ADHD Women Project (2020) www.adhd-women.eu
übersetzt von Monique Zurbrügg (2022) https://www.adhs-organisation.ch/
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